Geheimnisvolle Faszien – das Bindegewebe

Geheimnisvolle Faszien – geheimnisvolle Bänder
Ursache für Arbeitsunfähigkeit in Deutschland: Rückenschmerzen. Wiederkehrenden Kreuzschmerz, also im unteren Lendenbereich, kennt über ein Drittel der Deutschen. Doch was Ärzte und Forscher nicht kennen, sind die Ursachen: Die meisten Fälle bleiben organisch ungeklärt. Und keiner der üblichen Verdächtigen – Wirbel, Bandscheiben, Nerven, Schmerzgedächtnis, Stress, verkrampfte, zu schwache oder einseitig belastete Muskeln – ließ sich bisher dingfest machen.

Eine neue Figur auf dem Spielfeld

Jetzt aber rückt ein weiterer Faktor in den Blick: Es ist das Bindegewebe, auch Faszien genannt. Jahrelang hielt man jenes weiße Geflecht im Körper, das unter der Haut die Muskeln und Muskelbündel umhüllt, nur für totes Füllmaterial. Doch neue Forschungen enthüllen, dass das Bindegewebe viele Funktionen hat: Es ist ein eigenständiges Organ, das den Körper nicht nur stützt und formt, sondern auch mit vielen Nervenendigungen, Schmerz- und Bewegungssensoren versehen ist. Faszien können sich sogar selbstständig zusammenziehen, und sie übernehmen die Kraftübertragung von Muskel zu Muskel, sorgen also dafür, dass die Muskeln miteinander kooperieren und reibungslos funktionieren. Die zahlreichen Bewegungssensoren auf den Faszien machen das Bindegewebe zu einem zentralen Organ der Körperwahrnehmung, das sich sogar auf das Immunsystem und die Psyche auswirkt.

Erfolge – aber warum?

Robert Schleip, Faszienforscher an der Universität Ulm, ist den geheimnisvollen Bändern auf der Spur. Der studierte Psychologe beschäftigt sich mit Bindegewebe, seit er in den 1980er-Jahren eine Ausbildung in alternativer Körpertherapie begann. Das sogenannte Rolfing, entwickelt von der Biochemikerin Ida Rolf in den USA, ist eine Massageform, die speziell das Bindegewebe erreichen soll. Statt den Muskeln messen Rolfing-Therapeuten dem Bindegewebe eine überragende Rolle bei Verspannungen zu – auch bei Rückenschmerzen. Rolfer arbeiten auf dem freien Therapiemarkt, die Patienten bezahlen privat.
Doch trotz großer Erfolge in seiner Praxis blieben für Robert Schleip einige Fragen offen: „Wir haben viele Behandlungserfolge, zum Beispiel bei Rückenschmerzen. Da erlebe ich als Rolfer jeden Tag, dass es den Patienten viel besser geht, dass man unter der Hand spürt, wie das Gewebe weicher und der Gang wieder geschmeidiger wird. Was mir jedoch nicht genügte, war der Hintergrund – Erklärungskonzepte wie ein eher esoterischer ‚Energiefluss‘. Das war mir nicht ausreichend, ich wollte es genauer wissen, vor allem aber wollte ich wissen: Was ist wissenschaftlich haltbar?“

Von der alternativen Therapie in die Forschung

Das verborgene Leben der Faszien wurde in Ulm aufgedeckt.
Robert Schleip wurde vom Therapeuten zum Wissenschaftler, promovierte als Humanbiologe an der Universität Ulm und arbeitet heute in einer eigenen Faszien-Forschungseinheit. Seine Kollegin ist die Neurophysiologin Heike Jäger an der Universität Ulm. Sie ist Expertin für Muskelkrankheiten und chronischen Schmerz wie Rückenschmerzen. Zusammen haben Robert Schleip und Heike Jäger in Ulm an einem eigens entwickelten Gerät gezeigt, dass das Bindegewebe auf Stress-Botenstoffe reagiert. Im Experiment spannten die Forscher Faszien in einer Flüssigkeit auf und fügten Stress-Botenstoffe dazu. Daraufhin zog sich das Gewebe zusammen, obwohl keine Muskeln vorhanden waren. Das zeigt, wie psychischer Stress über Botenstoffe auf das Bindegewebe wirkt und eine Verhärtung herbeiführt. Solche Prozesse betrachten Robert Schleip und Heike Jäger als bedeutsam für die Entstehung von Rückenschmerzen. Tatsächlich, so Heike Jäger, konnte schon gezeigt werden, dass bei Rückenpatienten die Faszien im unteren Rücken eindeutig verdickt sind und dass der gesamte Bereich schmerzempfindlicher ist. „Man kann sich sehr gut vorstellen, dass das den Rückenschmerz stark begünstigt“, sagt die Neurophysiologin.

Risse und Wunden in der Rückenfaszie

Gestörte Faszien schütten Entzündungsstoffe aus. Eine große Rolle spielen möglicherweise auch kleine Wunden oder Risse in den Faszien, die etwa durch falsche und einseitige Belastung entstehen. Solche Mikro-Verletzungen könnten in den Faszien zu Entzündungen führen, und zu falschen Signalen, die aus den Faszien an die Muskeln gehen. Die darauf folgenden Muskelstörungen führen zu weiteren Verkrampfungen, und beides zusammen möglicherweise zum chronischen Rückenschmerz. Weltweit wird inzwischen die Beteiligung der Faszien an der Schmerzentstehung diskutiert. In Ulm planen Robert Schleip und Heike Jäger jetzt weitere Studien, die die Rolle der Faszien bei Schmerzen aufklären sollen. Mit einem neuen Ultraschall-Gerät soll auch gezeigt werden, wie sich Faszien bei Training oder unter manueller Behandlung verändern.

Heilen mit den Händen

Rückenfaszie im Ultraschall – mit dem neuen Gerät sind in Ulm weitere Studien geplant.
Für Robert Schleip, der neben der Forschung noch in München seine Rolfing-Praxis führt, sind aber auch die praktischen Folgerungen wichtig, die sich aus seiner Faszien-Forschung ergeben: Manuelle Therapien wie die klassische Massage, aber auch Rolfing wirken offensichtlich auf das Bindegewebe – unter anderem regen sie dort den Stoffwechsel an, regen den Flüssigkeitsaustausch an oder führen dazu, dass entzündungshemmende Botenstoffe ausgeschüttet werden. Tierversuche konnten schon zeigen, dass Faszien bei Bewegungsmangel und Fehlbelastung geradezu verkleben und verfilzen. Sanfte Massage kann diese Verklebungen wieder lösen – das Heilen mit den Händen könnte jetzt ganz neuen Aufschwung erfahren, etwa Anerkennung und Finanzierung durch die Krankenkassen. Auch andere, sogenannte sanfte Verfahren könnten durch die neue Faszien-Theorie erklärt werden, etwa Yoga und Pilates. Beide dehnen scheinbar das Bindegewebe – ihre bisher unverstandenen Erfolge, so Robert Schleip, könnten auf Faktoren beruhen, die tief im Bindegewebe liegen.

Das sogenannte Faszientraining trainiert eben nicht nur Muskeln, Sehnen und Bänder, sondern auch das Bindegewebe, dass untrainiert zur Verklebung und Vernarbung neigt und dadurch Bewegungseinschränkungen und Schmerzen verursacht. Wer also bis ins hohe Alter gelenkig, geschmeidig und vor allem schmerzfrei bleiben will, tut gut daran, durch Dehnübungen mit und ohne Hilfsmittel für Elastizität und Viskosität des Bindegewebes zu sorgen.

Die Basics des Faszientrainings sind einfach und zu Hause, beim Sport und sogar auf der Arbeit leicht durchzuführen. Man braucht im Gegensatz zum Muskeltraining aber schon ein wenig Geduld, bis man die ersten Wirkungen in Form von Geschmeidigkeit und Wohlbefinden spürt. Nach drei Monaten macht sich der Tonus, der neue Spannungszustand des Körpers, bemerkbar, und das vor allem im Schulter-, Rücken- und Kniebereich, den klassischen Schmerzbereichen.

Text, Autorin: Johanna Bayer (WDR)

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